„Die Dinge rühren
unsere Seele an, wir machen die Melodie daraus“.
(Friedrich Nietzsche)
„Was wir von den
Sinnen empfangen, ist nicht die „äußere Welt“
– es ist das, womit wir uns eine äußere Welt
machen“
(Paul Valèry)
|
„Sin(ne)lich“ (mittelhochdeutsch.), durch die Sinne
geschehend, mit den Sinnen wahrnehmbar, körperlich. Sprachliche
Synonyme sind: sinnenhaft, triebhaft, genussfreudig, sinnenfreudig,
kreatürlich, wollüstig, sexuell, erotisch, genussfähig,
hörbar, spürbar, fühlbar, sichtbar, wahrnehmbar,
mit den Sinnen erfahrbar. Als Gegenworte finden sich: asketisch,
geistig, seelisch (Bulitta, Wörterbuch der Synonyme).
„Sinnen“ verweist auf das, was 1) passiv und pathisch
unsere Begierden und Gedanken erregt 2) wonach wir aktiv trachten,
was wir anstreben, wohin wir uns bewegen.
Im diesjährigen Seminar soll das Leitthema
„sinnlich“ erkundet und erlebt werden. Sensible
Bewegungsmethoden und Kontaktprozesse, heilsame Berührungen,
meditative Stille, Tanz und Musik, Stimm- und Atemübungen,
Imaginations- und Visualisierungstechniken, Bewegungsübungen
der Kampfkünste, spielerische Inszenierungen, sowie die
Entwicklung von Achtsamkeit und Aufmerksamkeit stehen im Mittelpunkt
dieses Seminars. Sie können als kreativ-sinnliche, methodenübergreifende
Ergänzungen von Psycho- und Körpertherapie erfahren
und reflektiert werden.
Die einzelnen Sinne haben biologische Funktionsbereiche
in denen sie optimal arbeiten können. Diesseits und jenseits
von Reizschwellen ist die Intensität zu stark oder zu
schwach für die bewusste Wahrnehmung. Möglichkeiten
zu Regeneration und Pausen der Sinne pflegen, erhalten und
befördern deren Arbeitsmöglichkeiten. Wir haben
angeborene „Sinne“ für Zeit und Rhythmen.
Und nicht zuletzt einen mysteriösen „intuitiven
Sinn“.
Im Alltag und in der Therapie berührt
und bewegt uns vieles ungefragt. Es spricht uns an, erfüllt,
kommt zu Ohren, kommt und klingt in den Ohren, schmeckt oder
stößt sauer auf, erscheint geschmacklos, liegt
in der Luft oder stinkt. Dürfen Psycho- und Körpertherapeuten
ein Gespür, einen Riecher oder gar einen Instinkt für
Probleme und Lösungen haben, welche über die nüchterne
Ratio hinausgehen? Sollten sie diese „Sinne“ sogar
schulen und verfeinern? Müssen subjektive Formen der
therapeutischen Wahrnehmung aus der Diagnostik weitgehend
ausgeklammert werden? Oder sind sie unverzichtbare Erweiterungen
der wissenschaftlich genormten und technisch-apparativen Diagnostik?
Nachdem die menschlichen Gefühle, als
„Emotionen“ geläutert, in den letzten Jahren
wieder wissenschaftliche Anerkennung gewonnen haben, finden
jetzt sinnliche und leibliche Erfahrung neues Interesse. 2004
wurde der Nobelpreis der Medizin für Arbeiten zur „Aufklärung
des Geruchssinns“ vergeben. Der Geruchssinn galt lange
als ein Mysterium der Wissenschaft. Sein Geheimnis ist jetzt
erstmals mit Hilfe von molekularbiolgischen Techniken entschlüsselt
worden. Damit wissen wir zwar mehr über das „Wie“
der Duftwahrnehmung, aber immer noch wenig über das „Warum“
ihrer sinnlichen Wirkungen.
Neurobiologen finden vermehrte Hinweise auf angeborene „Bewegungsmelder“
des Gehirns in Form von Spiegelzellnetzwerken. Das Einfühlungsvermögen,
die Empathie, scheint neurobiologisch verständlicher
zu werden.
Veränderte und verzerrte Sinneswahrnehmungen,
anhedone Zustände, Sinnestäuschungen, Illusionen
und Halluzinationen, synästhetische Phänomene sind
häufige Bestandteile der psychiatrischen und psychotherapeutischen
Arbeit. Ihre Diagnostik bemüht sich um ein Verständnis
der Übereinstimmung und Stimmigkeit von objektiven, äußeren
Sinnesreizen und subjektiven, inneren Sinneswahrnehmungen.
Anhaltende Reizüberflutung oder Überreizung
bedingen Abnutzung, Abstumpfung, Verrohung und Verarmung der
Sinne. Bei einseitiger Dominanz der Fernsinne (Sehen, Hören)
drohen die Nahsinne (Tasten, Bewegen, Schmecken) zu verkümmern.
„Die uns das Leben gaben, herrliche
Gefühle, erstarren in dem irdischen Gewühle“
(J.W. von Goethe). Im hektischen Getriebe einer rein materialistisch
orientierten Gesellschaft kann aus dem sensiblen Menschenkind
leicht ein überreizter oder abgestumpfter Zeitgenosse
werden. Werbestrategen und Medienmacher starten massive Angriffe
vermeintlicher „Sinnlichkeit“, welche z.B. subtile
Erotik durch grelle, lärmende oder gewalttätige,
pornografische Symbole und Oberflächen ersetzen.
Wo der öffentliche Lebensraum zusehends
stinkt, lärmt, flimmert und schwirrt, da sollen aufgerüstete,
private Refugien die Sinne benebeln und beruhigen. Aus dem
ursprünglichen Scharfsinn der menschlichen Sinne kann
durch fortgesetzten Unsinn, Schwachsinn und Stumpfsinn schließlich
auch Wahnsinn (von „wan“, ahd., leer) werden.
Die Orientierung droht verloren zu gehen, man sieht keinen
Sinn mehr zu etwas, spürt Sinnlosigkeit, befürchtet,
von Sinnen zu sein, besinnungslos zu werden.
Strukturelle „Sinnesschädigungen“
in Form von Augen- und Hörschäden, von Geruchs-
und Geschmacksverlust, von Empfindungslosigkeit für Berührungen
sind weit verbreitet. In abgeschwächter, funktioneller,
psychosomatischer Form zeigen sich solche „Schäden“
als Freudlosigkeit, Anhedonie, integraler Bestandteil von
Erschöpfungszuständen, depressiven Syndromen und
Ängsten.
Bisher steht die Normalisierung von „negativen“,
pathologischen Verzerrungen einseitig im Mittelpunkt des medizinischen
und therapeutischen Interesses. Angeregt durch die humanistischen
Methoden der Psychotherapie haben inzwischen auch „positive“
psychotherapeutische Methoden der Sinnesschulung, des Genusstrainings,
der Förderung von sinnlichem Empfinden neues Interesse
gefunden. Heilsame Berührungen, stilles Lauschen und
offenes Schauen, sich etwas auf der Zunge zergehen lassen
oder freudvolle Bewegungen probieren, diese Wege ergänzen
heute vielgestaltig die verbalen psychotherapeutischen Methoden.
Im diagnostischen und therapeutischen Geschehen
sind subtile Empfindungen für sinnlich-atmosphärische
Schwingungen von großer Bedeutung. Diese spielen in
Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen, in
der Entwicklung von Mitgefühl oder in wirksamen Anleitungen
zur Heilung eine wichtige Rolle. Die Entwicklung von Wohlbefinden
und Achtsamkeit ist für professionelle Helfer ein zentraler
Faktor. Sinnliche Wahrnehmungen sind psychosomatische Akte
von lebendigen, teilhabenden Betrachtern.
Helmut Milz
|