LEIB ODER LEBEN
12. Internationales Seminar für
körperbezogene Psychotherapie, Körpertherapie
und Körperkunst
BAD GLEICHENBERG, 30.April bis 5.Mai 2006

 

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Sinn(l)ich

Editorial

„Die Dinge rühren unsere Seele an, wir machen die Melodie daraus“.
(Friedrich Nietzsche)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Was wir von den Sinnen empfangen, ist nicht die „äußere Welt“ – es ist das, womit wir uns eine äußere Welt machen“
(Paul Valèry)

„Sin(ne)lich“ (mittelhochdeutsch.), durch die Sinne geschehend, mit den Sinnen wahrnehmbar, körperlich. Sprachliche Synonyme sind: sinnenhaft, triebhaft, genussfreudig, sinnenfreudig, kreatürlich, wollüstig, sexuell, erotisch, genussfähig, hörbar, spürbar, fühlbar, sichtbar, wahrnehmbar, mit den Sinnen erfahrbar. Als Gegenworte finden sich: asketisch, geistig, seelisch (Bulitta, Wörterbuch der Synonyme). „Sinnen“ verweist auf das, was 1) passiv und pathisch unsere Begierden und Gedanken erregt 2) wonach wir aktiv trachten, was wir anstreben, wohin wir uns bewegen.

Im diesjährigen Seminar soll das Leitthema „sinnlich“ erkundet und erlebt werden. Sensible Bewegungsmethoden und Kontaktprozesse, heilsame Berührungen, meditative Stille, Tanz und Musik, Stimm- und Atemübungen, Imaginations- und Visualisierungstechniken, Bewegungsübungen der Kampfkünste, spielerische Inszenierungen, sowie die Entwicklung von Achtsamkeit und Aufmerksamkeit stehen im Mittelpunkt dieses Seminars. Sie können als kreativ-sinnliche, methodenübergreifende Ergänzungen von Psycho- und Körpertherapie erfahren und reflektiert werden.

Die einzelnen Sinne haben biologische Funktionsbereiche in denen sie optimal arbeiten können. Diesseits und jenseits von Reizschwellen ist die Intensität zu stark oder zu schwach für die bewusste Wahrnehmung. Möglichkeiten zu Regeneration und Pausen der Sinne pflegen, erhalten und befördern deren Arbeitsmöglichkeiten. Wir haben angeborene „Sinne“ für Zeit und Rhythmen. Und nicht zuletzt einen mysteriösen „intuitiven Sinn“.

Im Alltag und in der Therapie berührt und bewegt uns vieles ungefragt. Es spricht uns an, erfüllt, kommt zu Ohren, kommt und klingt in den Ohren, schmeckt oder stößt sauer auf, erscheint geschmacklos, liegt in der Luft oder stinkt. Dürfen Psycho- und Körpertherapeuten ein Gespür, einen Riecher oder gar einen Instinkt für Probleme und Lösungen haben, welche über die nüchterne Ratio hinausgehen? Sollten sie diese „Sinne“ sogar schulen und verfeinern? Müssen subjektive Formen der therapeutischen Wahrnehmung aus der Diagnostik weitgehend ausgeklammert werden? Oder sind sie unverzichtbare Erweiterungen der wissenschaftlich genormten und technisch-apparativen Diagnostik?

Nachdem die menschlichen Gefühle, als „Emotionen“ geläutert, in den letzten Jahren wieder wissenschaftliche Anerkennung gewonnen haben, finden jetzt sinnliche und leibliche Erfahrung neues Interesse. 2004 wurde der Nobelpreis der Medizin für Arbeiten zur „Aufklärung des Geruchssinns“ vergeben. Der Geruchssinn galt lange als ein Mysterium der Wissenschaft. Sein Geheimnis ist jetzt erstmals mit Hilfe von molekularbiolgischen Techniken entschlüsselt worden. Damit wissen wir zwar mehr über das „Wie“ der Duftwahrnehmung, aber immer noch wenig über das „Warum“ ihrer sinnlichen Wirkungen.
Neurobiologen finden vermehrte Hinweise auf angeborene „Bewegungsmelder“ des Gehirns in Form von Spiegelzellnetzwerken. Das Einfühlungsvermögen, die Empathie, scheint neurobiologisch verständlicher zu werden.

Veränderte und verzerrte Sinneswahrnehmungen, anhedone Zustände, Sinnestäuschungen, Illusionen und Halluzinationen, synästhetische Phänomene sind häufige Bestandteile der psychiatrischen und psychotherapeutischen Arbeit. Ihre Diagnostik bemüht sich um ein Verständnis der Übereinstimmung und Stimmigkeit von objektiven, äußeren Sinnesreizen und subjektiven, inneren Sinneswahrnehmungen.

Anhaltende Reizüberflutung oder Überreizung bedingen Abnutzung, Abstumpfung, Verrohung und Verarmung der Sinne. Bei einseitiger Dominanz der Fernsinne (Sehen, Hören) drohen die Nahsinne (Tasten, Bewegen, Schmecken) zu verkümmern.

„Die uns das Leben gaben, herrliche Gefühle, erstarren in dem irdischen Gewühle“ (J.W. von Goethe). Im hektischen Getriebe einer rein materialistisch orientierten Gesellschaft kann aus dem sensiblen Menschenkind leicht ein überreizter oder abgestumpfter Zeitgenosse werden. Werbestrategen und Medienmacher starten massive Angriffe vermeintlicher „Sinnlichkeit“, welche z.B. subtile Erotik durch grelle, lärmende oder gewalttätige, pornografische Symbole und Oberflächen ersetzen.

Wo der öffentliche Lebensraum zusehends stinkt, lärmt, flimmert und schwirrt, da sollen aufgerüstete, private Refugien die Sinne benebeln und beruhigen. Aus dem ursprünglichen Scharfsinn der menschlichen Sinne kann durch fortgesetzten Unsinn, Schwachsinn und Stumpfsinn schließlich auch Wahnsinn (von „wan“, ahd., leer) werden. Die Orientierung droht verloren zu gehen, man sieht keinen Sinn mehr zu etwas, spürt Sinnlosigkeit, befürchtet, von Sinnen zu sein, besinnungslos zu werden.

Strukturelle „Sinnesschädigungen“ in Form von Augen- und Hörschäden, von Geruchs- und Geschmacksverlust, von Empfindungslosigkeit für Berührungen sind weit verbreitet. In abgeschwächter, funktioneller, psychosomatischer Form zeigen sich solche „Schäden“ als Freudlosigkeit, Anhedonie, integraler Bestandteil von Erschöpfungszuständen, depressiven Syndromen und Ängsten.

Bisher steht die Normalisierung von „negativen“, pathologischen Verzerrungen einseitig im Mittelpunkt des medizinischen und therapeutischen Interesses. Angeregt durch die humanistischen Methoden der Psychotherapie haben inzwischen auch „positive“ psychotherapeutische Methoden der Sinnesschulung, des Genusstrainings, der Förderung von sinnlichem Empfinden neues Interesse gefunden. Heilsame Berührungen, stilles Lauschen und offenes Schauen, sich etwas auf der Zunge zergehen lassen oder freudvolle Bewegungen probieren, diese Wege ergänzen heute vielgestaltig die verbalen psychotherapeutischen Methoden.

Im diagnostischen und therapeutischen Geschehen sind subtile Empfindungen für sinnlich-atmosphärische Schwingungen von großer Bedeutung. Diese spielen in Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen, in der Entwicklung von Mitgefühl oder in wirksamen Anleitungen zur Heilung eine wichtige Rolle. Die Entwicklung von Wohlbefinden und Achtsamkeit ist für professionelle Helfer ein zentraler Faktor. Sinnliche Wahrnehmungen sind psychosomatische Akte von lebendigen, teilhabenden Betrachtern.


Helmut Milz



   

 

 

 

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