„Ich bin eine Saite,
über rauschende
breite Resonanzen
gespannt.“
Rainer Maria Rilke
Unser gesellschaftliches Leben
verläuft nur noch selten im Einklang mit unseren angeborenen,
biologischen Rhythmen. Unsere Biologie steht ehrgeizigen Anforderungen
der Leistungsgesellschaft scheinbar im Wege.
Die Zyklen von Ruhe und Erholung haben sich
häufig verschoben. In den letzten 100 Jahren hat sich
die durchschnittliche Schlafdauer der Menschen in den Industrieländern
um ein Fünftel verkürzt. Etwa ein Viertel der Bürger
ist dementsprechend unausgeschlafen. Veränderte psychosoziale
Tag-Nachtrhythmen lassen die Zahl von Fehlern und Unfällen,
kardiovaskulären Störungen und Stoffwechselentgleisungen,
Lern- und Gedächtnisproblemen, Ängsten und Depressionen
ansteigen.
Vergangene Heilkulturen haben „Organuhren“
postuliert. In der Gesundheitshygiene der Griechen war „das
rechte Maß“ an Aktivität und Ruhe ein zentrales
Primat. Chronobiologische Forschungen finden heute „Uhren-Gene“
die als biologische Regulatoren fungieren. Jede Zelle hat
Schwingungsmuster, Oszillationen und Schrittmacher. Organische
Zeitgeber („organ clocks“) regeln die Abfolge
des Stoffwechsels im Abgleich und Austausch mit der Umwelt.
Rhythmen von ganz unterschiedlicher Dauer interagieren und
regulieren sich.
Frühe Bewegungen werden zuerst vom Gleichgewichtsorgan
als das Schwanken und Drehen, Taumeln und Tanzen des wachsenden
Organismus registriert. Gleichgewichte versuchen sich immer
wieder neu zu regulieren. Häufig sich wiederholende Bewegungen
ordnen sich zu rhythmischen Mustern, Erinnerungen und Erwartungen.
Rhythmen sind sich regelhaft wiederholende,
ordnende Prozesse. Sie gehorchen einer inneren Logik. Bekannte
Beispiele sind Herzschlag, Atemrhythmus, Wechsel von Tag und
Nacht und die Jahreszeiten. Als Melodie des Lebens sind Rhythmen
elastisch und flexibel, haben fast paradoxe Qualitäten:
„Unstetigkeit im Stetigen, regelmäßige Unregelmäßigkeit“
?(H. Plessner).
Menschliche Organismen sind schwingende Resonanzkörper:
Mitschwingen, Widerhall und Echo vermitteln Zusammenhang und
Ganzheit. Wenn schwingende Systeme sich annähern, mit-einander
in Resonanz treten, dann entwickelt sich wechselseitiges Einschwingen.
Es entstehen neue, gemeinsame Rhythmen. Bei entsprechender
Resonanzbereitschaft und gleicher Wellenlänge finden
sympathische Schwingungen Anklang und laden zum Mitschwingen
ein. Im umgekehrten Fall entwickeln sich möglicherweise
Dissonanzen, Missklänge, Arrhythmien und Disharmonien.
Wenn diese lange anhalten, dann entwickeln sich Störungen.
Die neurobiologische Entdeckung von Spiegelneuronen
lässt vermuten, dass Imitationslernen und Einfühlungsvermögen
neuronale Resonanzen bewirken. Auch in therapeutischen Beziehungen
gibt es rhythmische Prozesse, ?Resonanzen und Synchronisationen.
Körper- und leiborientierte Methoden nutzen die Sensi-bilität
der Wahrnehmung von biologischen Rhythmen. Achtsamkeit für
Rhythmus und Resonanz erlaubt mehr im Moment zu sein. Harmonisierung
von Rhythmen und Resonanzen können Selbstheilungspotentiale
des Organismus stärken.
Das diesjährige Seminar Leib oder Leben
bietet Gelegenheit Stimme und Stimmungen zu erkunden und Resonanzen
zu finden. Stille, Atmung, Meditation, Musik, Ausdruck, Lachen,
Gähnen, Jodeln, Bewegung, Tanz und Kampfkünste bilden
die leibliche Basis für gemeinsame Reflexionen.
Prof. Dr. Helmut Milz
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