Schwerkraft
und Leichtsinn
|
Nachdem sie mehr als 70 Jahre
Menschen aus aller Welt im natürlichen Umgang mit dem eigenen
Erleben unterrichtet hatte, sprach Charlotte Selver von einer
grundlegenden Einsicht ihrer Arbeit. Sie verwies dabei auf die
Verbindung von drei wesentlichen Faktoren des Lebendigseins.
Da sei zum Einen die stets präsente Schwerkraft. Mit ihr
leben wir in jedem Moment. Diese ziehe uns nach unten.
Um sie zu überwinden brauchen wir Kraft und Energie, Leichtsinn.
Dadurch können wir uns nach oben lösen.
Um diese Energie jedoch effizient einzusetzen, brauchen wir
klaren Kontakt zu dem, was uns den notwendigen Widerstand
bietet. Dies ist die Erde, der Boden, welcher uns trägt.
Auf dem gelungenen Wechselspiel dieser drei Faktoren
Schwerkraft, Energie und Bodenkontakt - beruht jeder Schritt,
den wir tun. Solange wir diesen unbehindert tun können,
entziehen sich die genannten Faktoren weitgehend unserer bewussten
Erfahrung. Schwierig wird es, wenn wir stolpern, wenn unser
Gewicht zu schwer wird, wenn wir zu sehr in unserer Trägheit
gefangen sind, wenn wir unsere Energie zu sehr verausgabt haben
oder wenn uns der Boden unter den Füssen verloren geht.
Nieder mit der Schwerkraft es lebe der Leichtsinn,
so lautete eine provokante Parole der Studenten in den siebziger
Jahren.
Obwohl jedem von uns das Phänomen der Schwerkraft bekannt
ist, gibt es den Experten immer noch Rätsel auf. Fakt scheint,
dass Schwerkraft etwas mit der gegenseitigen Anziehung von Massen
zu tun hat. Im Fall des Menschen mit der Anziehung zwischen
der riesigen Masse dieses Planeten und der, relativ dazu, verschwindend
kleinen Masse des einzelnen menschlichen Körpers.
Die Schwerkraft verhilft uns dazu, mit beiden Beinen am Boden
zu bleiben und nicht ständig hilflos davonzufliegen. Sie
bringt uns in andauernde Beziehung zum Boden, zur Erde, vermittelt
uns inneres Orientierungs- und Richtungsgefühl. Zugleich
müssen wir aber diesen Halt und Bodenkontakt im nächsten
Schritt immer wieder aufgeben. Lebendig zu sein bedeutet, immer
wieder den Aufstand gegen erlebte eigene Trägheit oder
äußerliches Erstarren zu wagen. Wir wollen uns von
Belastungen erleichtern, uns fortbewegen, weitergehen. Auch
in bleiernen Zeiten dürfen wir nicht vor dieser unerträglichen
Leichtigkeit des Seins erschrecken.
Was haben nun leib-und körperorientierte Therapien mit
Schwerkraft und Leichtsinn zu tun?
Was bedeutet für uns Schwerkraft? Wie erfahren wir sie
im täglichen Leben? Wie verändert sich unser Umgang
mit Schwerkraft in Konflikten und Krisen? Wie gehen wir
als Experten, als Helfende, als Therapeuten
mit diesen Phänomenen um? Wie verwenden wir ihr Erfahrungsangebot
in der leib- und körperorientierten Therapie? Wie bringen
wir Schwerkraft und Leichtsinn in gesunde Bewegung?
Der Begriff schwer ist in unserem Sprachgebrauch
meist negativ belegt. Denken Sie an Worte wie : beschwerlich,
schwerwiegend, schwerverständlich, belastend, bedrückend,
schwerfällig, bleiern, gewichtig, beklemmend, schwermütig,
schweren Herzens etwas tun, etwas liegt schwer im Magen, ist
schwer verdaulich, schwer zu durchschauen, macht uns das Leben
schwer.
In schwermütigen Stimmungszuständen ist alles schwierig
und mühsam. Wir tragen schwer an etwas, nehmen alles schwer,
es zieht uns runter, macht uns bewegungsunfähig, bisweilen
einfach platt. Empfindungen der Schwere prägen auch das
Gefühl der Depression, der chronischen Erschöpfung
und Überforderung, der Angst zu fallen und nicht wieder
hoch zu kommen (aufzufallen, umzufallen, dem Zufall oder dem
Unfall anheim zu fallen). Nach einer Krankheit oder einer Operation
fällt es uns schwer wieder auf die eigenen Füße
zu kommen.
Wir tun uns in bedrückten Stimmungs- und Gefühlszuständen
schwer, der Schwerkraft gute Seiten zuzugestehen. Wir verspüren
diese kaum noch als Angebot für Halt und Unterstützung.
Wir können sie nicht mehr selbstverständlich zur nächsten
Aktion nutzen.
Gewicht, als Ausdruck unserer körperlichen Masse, ist sozial
schlecht angesehen, erscheint als Ausdruck von Trägheit
und Bewegungsarmut. Übergewicht ist per se zum Risikofaktor
deklariert worden. In unzähligen Diätformen wird das
Gewicht bekämpft. Von den Massenmedien geförderte
Schlankheitsideale haben Gewichtsphobien und neue Epidemien
von Untergewicht in Form von Magersucht und Bulimie provoziert.
Dabei spricht auch vieles für das Schwere und die Schwerkraft.
Wir wollen uns selbst und unserer Sache Gewicht verleihen, suchen
einen festen Stand, wollen auf eigenen Füssen stehen, eine
eigene Mitte spüren, suchen nach gewichtigen Argumenten,
nehmen unser Befinden und Tun wichtig, sind schwer beeindruckt,
um nur einige schwergewichtige, positiv belegte Begriffe anzuführen.
In Anlehnung an verschiedene östliche Traditionen der Körperschulung
und der Kampfkünste haben körperorientierte Methoden
der Psychotherapie den Begriff des Grounding, der
Erdung, aufgegriffen. Kopflastigkeit und Vergeistigung bergen
in sich die Gefahr abzuheben. Im bewussten Wiedererleben des
tragenden Grunds soll neuer Halt, am Boden und in sich selber
entdeckt werden. In Analogie zum vegetativen, pflanzlichen Anteil
des Menschen sollen die eigenen Wurzeln wieder deutlicher werden.
Körperhaltungen des entspannten Liegens oder Sitzens sollen
das tragende Angebot der Erde neu erfahrbar und die wohltuende
Nutzung der Schwerkraft neu erproben helfen.
In stampfenden, hüpfenden, tanzenden, rhythmischen Begegnungen
wird der lösende, belebende, energiespendende Umgang mit
der Schwerkraft gefördert. In ihnen soll die innere Schwere
wieder in Bewegung, in neue Schwingungen geraten.
Bei uns selbst und bei verschiedenen Experten suchen wir um
Erleichterung nach. Wir möchten Ballast abwerfen, damit
es uns leichter fällt, wir unbeschwerter, leichten Herzens
sein können, aufatmen, es wieder leichter nehmen. Es soll
uns leicht von der Hand gehen, mühelos, ungezwungen. Wir
möchten wieder öfters leichtsinnig, spielerisch,
heiter, fröhlich, lustig, unbekümmert, beschwingt,
vor Freude hüpfen können. Das Leben soll bekömmlich
werden. Wir hoffen es wieder unbedachter genießen zu können.
Aber bitte nicht zu leicht kommt dann gleich die
Warnung. Nur nicht leichtsinnig werden. Denn dann könnte
sich leicht ein Mangel an Überlegung und Vorsicht einstellen.
Wir könnten leichtfertig, unbesonnen, fahrlässig,
oberflächlich, gedankenlos, abgehoben, unachtsam, skrupellos,
sträflich, pflichtvergessen sein.
Bei Schwindelgefühlen , die häufig ohne erkennbare
körperliche Pathologie auftreten, überfällt uns
ein beängstigendes Gefühl von Leichtigkeit. Der Kontakt
zum Boden droht unter unseren Füssen verloren zu gehen.
Als Extrem der abgehobenen Leichtigkeit, bei der es vorübergehend
keine Grenzen der körperlichen Schwerkraft zu geben scheint,
gelten manische Gefühlszustände. Gegen solche Formen
des Leichtsinnes bestehen entsprechende, schwere Bedenken.
Ohne Schwerkraft können wir weder Haltung bewahren noch
wiedergewinnen. Ohne Leichtsinn mangelt es uns an Mut zum nächsten
Schritt. Nur im Wechselspiel beider, im rhythmischen Auf und
Ab, gelingt uns der aufrechte Gang. Erst im vertrauten Umgang
mit beiden Bewegungsanmutungen, dem leichten Oben und dem schweren
Unten, dem tragenden Grund und der befreienden Luft, gelingt
uns bewegtes Leben. Dieses will sich auf Dauer weder im bedeutungsschweren
Tiefgang, noch in modischen light- and- easy Vernebelungen
verlieren.
Leib- und körperorientierte Therapien beginnen in ihrer
Arbeit am unmittelbaren Erleben jedes besonderen Menschen. Sie
ermutigen ihn dazu, sich wider aufmerksam am eigenen Leben zu
beteiligen. Wie kann ich erlauben und abwarten, was hier und
jetzt geschehen will? Wie gelingt es mir, das was ich spüre
in Bewegungen auszudrücken? Welche Schwere fühle ich
wo? Welchen ungewohnten Leichtsinn möchte ich jetzt erproben?
Wo und wie finde ich dazu den nötigen Halt? Welche ungewohnten
Haltungen möchte ich versuchen?
Wir haben uns bemüht hervorragende Leiterinnen und Leiter
aus verschiedenen Methoden und Schulen für das Seminar
zu gewinnen. Dabei haben wir vorübergehend, schweren Herzens,
auf einige vertraute, bewährte Gruppenleiter verzichten
müssen - und dies ist nicht leicht gefallen. Ohne diese
Veränderungen könnte das Leib oder Leben
Seminar seinem Anspruch, ein Forum für vielgestaltige Methoden
und wechselnde Impulse zu sein, nicht gerecht werden.
Eingeladen sind alle, die sich zutrauen, am eigenen Leibe, praktisch
und in gemeinsamer Reflexion, gesundheitsfördernde und
therapeutische Möglichkeiten zu finden: Frauen und Männer
verschiedenen Alters, Ärzte und Psychologen, Psycho- und
Körpertherapeuten, Pädagogen, Berater, Theaterschaffende,
etc. diejenigen, welche Kopf und Theorie wieder mit Herz
und Bauch verbinden wollen, und diejenigen, welche ihre intuitiven
und sensiblen Fähigkeiten durch mehr theoretische Ordnung
und Klarheit ergänzen wollen.
Helmut Milz, Marquartstein |
|
|
|