LEIB ODER LEBEN

LEIB ODER LEBEN
9. Internationales Seminar für
körperbezogene Psychotherapie und Körpertherapie

BAD GLEICHENBERG, 27. April bis 2. Mai 2003

 

 

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Schwerkraft und Leichtsinn > Editorial

 

Schwerkraft und Leichtsinn

Nachdem sie mehr als 70 Jahre Menschen aus aller Welt im natürlichen Umgang mit dem eigenen Erleben unterrichtet hatte, sprach Charlotte Selver von einer grundlegenden Einsicht ihrer Arbeit. Sie verwies dabei auf die Verbindung von drei wesentlichen Faktoren des Lebendigseins. Da sei zum Einen die stets präsente Schwerkraft. Mit ihr leben wir in jedem Moment. Diese ziehe uns „nach unten”. Um sie zu überwinden brauchen wir Kraft und Energie, „Leichtsinn”. Dadurch können wir uns „nach oben” lösen. Um diese Energie jedoch effizient einzusetzen, brauchen wir klaren Kontakt zu dem, was uns den „notwendigen Widerstand” bietet. Dies ist die Erde, der Boden, welcher uns trägt.
Auf dem gelungenen Wechselspiel dieser drei Faktoren – Schwerkraft, Energie und Bodenkontakt - beruht jeder Schritt, den wir tun. Solange wir diesen unbehindert tun können, entziehen sich die genannten Faktoren weitgehend unserer bewussten Erfahrung. Schwierig wird es, wenn wir stolpern, wenn unser Gewicht zu schwer wird, wenn wir zu sehr in unserer Trägheit gefangen sind, wenn wir unsere Energie zu sehr verausgabt haben oder wenn uns der Boden unter den Füssen verloren geht.
„Nieder mit der Schwerkraft – es lebe der Leichtsinn”, so lautete eine provokante Parole der Studenten in den siebziger Jahren.
Obwohl jedem von uns das Phänomen der Schwerkraft bekannt ist, gibt es den Experten immer noch Rätsel auf. Fakt scheint, dass Schwerkraft etwas mit der gegenseitigen Anziehung von Massen zu tun hat. Im Fall des Menschen mit der Anziehung zwischen der riesigen Masse dieses Planeten und der, relativ dazu, verschwindend kleinen Masse des einzelnen menschlichen Körpers.
Die Schwerkraft verhilft uns dazu, mit beiden Beinen am Boden zu bleiben und nicht ständig hilflos davonzufliegen. Sie bringt uns in andauernde Beziehung zum Boden, zur Erde, vermittelt uns inneres Orientierungs- und Richtungsgefühl. Zugleich müssen wir aber diesen Halt und Bodenkontakt im nächsten Schritt immer wieder aufgeben. Lebendig zu sein bedeutet, immer wieder den Aufstand gegen erlebte eigene Trägheit oder äußerliches Erstarren zu wagen. Wir wollen uns von Belastungen erleichtern, uns fortbewegen, weitergehen. Auch in bleiernen Zeiten dürfen wir nicht vor dieser unerträglichen Leichtigkeit des Seins erschrecken.
Was haben nun leib-und körperorientierte Therapien mit Schwerkraft und Leichtsinn zu tun?
Was bedeutet für uns Schwerkraft? Wie erfahren wir sie im täglichen Leben? Wie verändert sich unser Umgang mit Schwerkraft in Konflikten und Krisen? Wie gehen wir
als Experten, als Helfende, als Therapeuten mit diesen Phänomenen um? Wie verwenden wir ihr Erfahrungsangebot in der leib- und körperorientierten Therapie? Wie bringen wir Schwerkraft und Leichtsinn in gesunde Bewegung?
Der Begriff „schwer” ist in unserem Sprachgebrauch meist negativ belegt. Denken Sie an Worte wie : beschwerlich, schwerwiegend, schwerverständlich, belastend, bedrückend, schwerfällig, bleiern, gewichtig, beklemmend, schwermütig, schweren Herzens etwas tun, etwas liegt schwer im Magen, ist schwer verdaulich, schwer zu durchschauen, macht uns das Leben schwer.

In schwermütigen Stimmungszuständen ist alles schwierig und mühsam. Wir tragen schwer an etwas, nehmen alles schwer, es zieht uns runter, macht uns bewegungsunfähig, bisweilen einfach platt. Empfindungen der Schwere prägen auch das Gefühl der Depression, der chronischen Erschöpfung und Überforderung, der Angst zu fallen und nicht wieder hoch zu kommen (aufzufallen, umzufallen, dem Zufall oder dem Unfall anheim zu fallen). Nach einer Krankheit oder einer Operation fällt es uns schwer wieder auf die eigenen Füße zu kommen.
Wir tun uns in bedrückten Stimmungs- und Gefühlszuständen schwer, der Schwerkraft gute Seiten zuzugestehen. Wir verspüren diese kaum noch als Angebot für Halt und Unterstützung. Wir können sie nicht mehr selbstverständlich zur nächsten Aktion nutzen.
Gewicht, als Ausdruck unserer körperlichen Masse, ist sozial schlecht angesehen, erscheint als Ausdruck von Trägheit und Bewegungsarmut. Übergewicht ist per se zum Risikofaktor deklariert worden. In unzähligen Diätformen wird das Gewicht bekämpft. Von den Massenmedien geförderte Schlankheitsideale haben Gewichtsphobien und neue Epidemien von Untergewicht in Form von Magersucht und Bulimie provoziert.

Dabei spricht auch vieles für das Schwere und die Schwerkraft. Wir wollen uns selbst und unserer Sache Gewicht verleihen, suchen einen festen Stand, wollen auf eigenen Füssen stehen, eine eigene Mitte spüren, suchen nach gewichtigen Argumenten, nehmen unser Befinden und Tun wichtig, sind schwer beeindruckt, um nur einige schwergewichtige, positiv belegte Begriffe anzuführen.
In Anlehnung an verschiedene östliche Traditionen der Körperschulung und der Kampfkünste haben körperorientierte Methoden der Psychotherapie den Begriff des „Grounding”, der Erdung, aufgegriffen. Kopflastigkeit und Vergeistigung bergen in sich die Gefahr abzuheben. Im bewussten Wiedererleben des tragenden Grunds soll neuer Halt, am Boden und in sich selber entdeckt werden. In Analogie zum vegetativen, pflanzlichen Anteil des Menschen sollen die eigenen Wurzeln wieder deutlicher werden. Körperhaltungen des entspannten Liegens oder Sitzens sollen das tragende Angebot der Erde neu erfahrbar und die wohltuende Nutzung der Schwerkraft neu erproben helfen.
In stampfenden, hüpfenden, tanzenden, rhythmischen Begegnungen wird der lösende, belebende, energiespendende Umgang mit der Schwerkraft gefördert. In ihnen soll die innere Schwere wieder in Bewegung, in neue Schwingungen geraten.
Bei uns selbst und bei verschiedenen Experten suchen wir um Erleichterung nach. Wir möchten Ballast abwerfen, damit es uns leichter fällt, wir unbeschwerter, leichten Herzens sein können, aufatmen, es wieder leichter nehmen. Es soll uns leicht von der Hand gehen, mühelos, ungezwungen. Wir möchten wieder öfters „leichtsinnig”, spielerisch, heiter, fröhlich, lustig, unbekümmert, beschwingt, vor Freude hüpfen können. Das Leben soll bekömmlich werden. Wir hoffen es wieder unbedachter genießen zu können.
„Aber bitte nicht zu leicht” kommt dann gleich die Warnung. Nur nicht leichtsinnig werden. Denn dann könnte sich leicht ein Mangel an Überlegung und Vorsicht einstellen. Wir könnten leichtfertig, unbesonnen, fahrlässig, oberflächlich, gedankenlos, abgehoben, unachtsam, skrupellos, sträflich, pflichtvergessen sein.
Bei Schwindelgefühlen , die häufig ohne erkennbare körperliche Pathologie auftreten, überfällt uns ein beängstigendes Gefühl von Leichtigkeit. Der Kontakt zum Boden droht unter unseren Füssen verloren zu gehen. Als Extrem der abgehobenen Leichtigkeit, bei der es vorübergehend keine Grenzen der körperlichen Schwerkraft zu geben scheint, gelten manische Gefühlszustände. Gegen solche Formen des Leichtsinnes bestehen entsprechende, schwere Bedenken.
Ohne Schwerkraft können wir weder Haltung bewahren noch wiedergewinnen. Ohne Leichtsinn mangelt es uns an Mut zum nächsten Schritt. Nur im Wechselspiel beider, im rhythmischen Auf und Ab, gelingt uns der aufrechte Gang. Erst im vertrauten Umgang mit beiden Bewegungsanmutungen, dem leichten Oben und dem schweren Unten, dem tragenden Grund und der befreienden Luft, gelingt uns bewegtes Leben. Dieses will sich auf Dauer weder im bedeutungsschweren Tiefgang, noch in modischen „light- and- easy” Vernebelungen verlieren.

Leib- und körperorientierte Therapien beginnen in ihrer Arbeit am unmittelbaren Erleben jedes besonderen Menschen. Sie ermutigen ihn dazu, sich wider aufmerksam am eigenen Leben zu beteiligen. Wie kann ich erlauben und abwarten, was hier und jetzt geschehen will? Wie gelingt es mir, das was ich spüre in Bewegungen auszudrücken? Welche Schwere fühle ich wo? Welchen ungewohnten Leichtsinn möchte ich jetzt erproben? Wo und wie finde ich dazu den nötigen Halt? Welche ungewohnten Haltungen möchte ich versuchen?

Wir haben uns bemüht hervorragende Leiterinnen und Leiter aus verschiedenen Methoden und Schulen für das Seminar zu gewinnen. Dabei haben wir vorübergehend, schweren Herzens, auf einige vertraute, bewährte Gruppenleiter verzichten müssen - und dies ist nicht leicht gefallen. Ohne diese Veränderungen könnte das „Leib oder Leben” Seminar seinem Anspruch, ein Forum für vielgestaltige Methoden und wechselnde Impulse zu sein, nicht gerecht werden.
Eingeladen sind alle, die sich zutrauen, am eigenen Leibe, praktisch und in gemeinsamer Reflexion, gesundheitsfördernde und therapeutische Möglichkeiten zu finden: Frauen und Männer verschiedenen Alters, Ärzte und Psychologen, Psycho- und Körpertherapeuten, Pädagogen, Berater, Theaterschaffende, etc. – diejenigen, welche Kopf und Theorie wieder mit Herz und Bauch verbinden wollen, und diejenigen, welche ihre intuitiven und sensiblen Fähigkeiten durch mehr theoretische Ordnung und Klarheit ergänzen wollen.

Helmut Milz, Marquartstein
   

 

 

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