|
Ist es verlogen
oder gar weltfremd „in diesen Zeiten“, „jetzt“
und heute, vom Glück zu reden? Lenken nicht jede Beachtung
des Glücks, geschweige denn die „Übung von
Glück“, nur zynisch vom“ wahren Elend“
ab, unter dem so viele Menschen überall in der Welt aktuell
leiden? Kann Beschäftigung mit Glück zu mehr führen
als privilegierten, vergeblichen, womöglich sogar verordneten
Fluchten? Sollte Glück nicht erst dann zum Thema werden,
wenn alles andere gerecht geregelt ist? Wie halten wir es
mit T. Adornos Mahnung: „Es gibt kein richtiges Leben
im falschen“? Kann und darf auch der/die „glücklich“
sein, der/die nicht vergisst, was alles noch zu ändern
ist? War der alte Geheimrat Goethe nur ein verträumter
Romantiker, wenn er schrieb: „Willst du immer weiter
schweifen? Sieh das Gute liegt so nah! Lerne nur das Glück
ergreifen, denn das Glück ist immer da“. (
J. W. Goethe) Kann man – trotz alledem – „jetzt
Glück üben“? Ins „Jetzt“ mischt
sich oft das ein, was nicht mehr ist oder was noch werden
könnte und häufig überdauert das „Jetzt“
diesen Augenblick.
„Es ist ein Wunder: der Augenblick, im Husch da,
im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts,
kommt doch als Gespenst wieder und stört die Ruhe eines
späteren Augenblicks“ (F. Nietzsche).
Wer sich zu sehr an einzelne Erinnerungen klammert, den lassen
diese oft nicht mehr los. Wem es „jetzt“ gelingt
diese Erinnerungen in ihrer ambivalenten Zeitlichkeit zu erkennen,
der kann sie möglicherweise wieder in Bewegung setzen.
Psycho-und Körpertherapien arbeiten mit solchen Paradoxien
des Augenblicks. Sie eröffnen Spielräume für
Veränderungen des eigenen Gedächtnisses. Vergangenes
kann „jetzt“ so angenommen und mitgestaltet werden,
dass es nicht mehr als „Totengräber des Gegenwärtigen“
(F. Nietzsche) wirkt.
Unser Leib und Gedächtnis bergen „Verdichtungen“
(H. Müller) in sich, welche sich unter dem Druck vergangener,
erlebter Gefühle und Situationen gebildet haben. „Beine
und Arme sind voll von schlummernden Erinnerungen“ (M.
Proust). Viele Wege zu therapeutischen Ver-änderungen
sind dementsprechend leiblich. Durch Bewegung und Berührung
lassen sich heilsame therapeutischen Möglichkeiten ?wecken
– wenn man für diese wach und bereit ist.
„Within the body, that you are wearing, now, insides
the bones and the beatings of the heart lives the one, you
have been searching for, so long. But you must stop moving
and shake hands, the meeting doesn`t happen without your presence,
your participation.“ (R. Hall)
In den letzten Jahren haben sich „westliche“
Psycho- und Körpertherapien um „östliche“
Elemente der meditativ-kontemplativen Bewusstseinsklärung
(mindfullnes – Achtsamkeit) erweitert. Diese lenken
in der Therapie die Aufmerksamkeit auf das spürbare „Jetzt“
und ermutigen eine Haltung des „Nicht-Tun“. Sie
betonen die regelmäßige, stille Übung einer
gelassenen, weder anhaftenden, noch bewertenden Bezeugung
des unmittelbaren Flusses von Wahrnehmungen, Gefühlen
oder Gedanken. Durch disziplinierte Aufmerksamkeit, etwa für
den Atem, kann sich dabei mehr bewusste Präsenz entwickeln.
„Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks,
alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, der wird
nie wissen was Glück ist.“ (F. Nietzsche).
Glücksgefühle sind meist nur von kurzer Dauer –
Glücksmomente. Man sagt, dass dem Glücklichen keine
Stunde schlägt. Er ist „jetzt“ glücklich.
Momente des befriedigenden Gelingens können wichtige
Zeitpunkte („kairos“) und Wendepunkte im Leben
sein. Sie tauchen später als erlebte Stärken wieder
auf. Ihre gezielte Erinnerung kann ein wichtiges Element von
psychotherapeutischer Ressourcenmobilisierung sein.
„Was wir im strengsten Sinne des Wortes Glück
nennen, wird von der plötzlichen Befriedigung aufgestauter
Bedürfnisse ausgelöst. Es kann naturgemäß
nur ein vorübergehendes Phänomen sein.“
(S. Freud).
„Glück gleicht durch Höhe aus, was ihm
an Länge fehlt“ (R. Frost).
Glück ist ein erhebendes Gefühl, in dem man manchmal
abheben und die ganze Welt umarmen könnte. Wer glücklich
ist, dem fehlen oft die Worte, um dies angemessen auszudrücken.
„Glück besteht vor allem darin, das Leben
zu lieben“ (M. Ricard).
„Glück“ hat viele Gestalten und kommt oft
als reizvolles Versprechen im oberflächlichen „pursuit
of happiness“, kann man heute leicht in Fluten von Glücksratgebern,
-forschern, -boten, -feen oder Glückspillen absaufen.
Glücksrezepte erweisen sich oft als „Anleitungen
zum Unglücklichsein“ (P. Watzlawick). „Nur
in der Praxis einer Sprache kann ein Wort Bedeutung bekommen“
(L. Wittgenstein). Wissenschaftliche Erkenntnisse über
neurobiologische Prozesse von „Glückszuständen“
und „Glückhormonen“, wie Endorphinen oder
Oxytocin, leisten einen wichtigen Beitrag zum Verständnis
von „Glück“. Sie können jedoch nicht
erklären, was „Glück“ ist. „Glück
ist nie das, was man sich darunter vorgestellt hat“
(S. Maugham).
Die 100-jährige Charlotte Selver sagte zu mir: „Every
moment is new, if you allow it“. Den Moment erlauben
– kann man das üben? „Üben“ braucht
Bereitschaft für die Be(ob)achtung von Unterschieden,
die einen Unterschied machen. „Lernen ist üben,
ohne zu wiederholen“ (N. Bernstein). Aufmerksames
„Üben“ ist mehr als nur Training, eine Schulung
oder ehrgeiziges besser- werden für den äußeren
Erfolg. „Üben üben“ ist eine dauernd
neue Herausforderung. Dazu gehört (leider?) Disziplin,
welche in Wiederholungen mehr entdeckt als nur Monotonie.
Östliche Wege der Entwicklung betonen in diesem Zusammenhang
den kontinuierlichen „Geist des Anfängers“.
„Üben“ braucht manchmal „richtige Fehler“,
aus denen man lernt, wie man routinierter, „falscher
Richtigkeit“ (M. v. Varga) vorbeugen kann. „Üben
üben“ weckt Interesse am Gewahrsein eigener, noch
nicht genutzter Möglichkeiten. Es weist über die
passive Vermittlung von Psycho- oder Körpertechniken
hinaus. Das glücksähnliche, durch geduldige Übung
vermittelte „Flow“-Erleben (M. Csikszentmihalyi)
einer spezifischen Meisterschaft ähnelt dem, was östliche
Wege mit „Eins-sein mit sich und seinem Tun“ umschreiben.
„Glück ist kein Geschenk der Götter –
es ist die Frucht einer inneren Einstellung.“ (E.
Fromm).
Meister übten sich schon früh. Übung allein
machte sie nicht zum Meister. Auch Meister können immer
wieder aus der Übung geraten. Zum „Glück“
gibt es Lösungen – Still sein, auch auf das achten,
was unmittelbar geschieht, im Kontakt mit Grund, Raum mit
der jetzt gegebenen Zeit sein, in Bewegungen, Gesten, Spiel,
Bildern, Sprachen – bei sich und zugleich mit anderen
sein.
Helmut Milz
|