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Wer das Seminar „Leib
oder Leben“ kennt, den wundert es nicht, dass unser
Tagungsmotto poetische Assoziationen einbezieht. Damit geben
wir beiden Polaritäten, welche in der therapeutischen
Arbeit wirken, Spielraum: der Imagination und der Vernunft.
Auch die Bedeutung des Wortes „Heimat“ wechselt
häufiger im Laufe unseres Lebens. Sie ist selten eindeutig
und sicher. „So entsteht in der Welt etwas, das allen
in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“
(E. Bloch). Einerseits verlassen viele Menschen ihre Heimat
aus eigenem Antrieb. Sie wollen heraus aus der Enge ihres
gewohnten Milieus, zu unbekannten Ufern aufbrechen, neue Herausforderungen
suchen, unabhängig werden, ihr Glück finden. In
der Fremde tauchen Heimweh und Wünsche zur Rückkehr
auf. „Die Fremde ist herrlich, solange es eine Heimat
gibt, die wartet.“ (E. Mann)
Andererseits ist der Verlust von Heimat durch Flucht, Völkerwanderungen
oder Vertreibung ein zentrales Thema der Menschheitsgeschichte
und weltweit leben heute Millionen von Menschen im unfreiwilligen
Exil, als Folge von Kriegen, ökologischen Desastern und
ökonomischen Krisen. Ihnen bleibt die Hoffnung, dass
sie neue Heimaten finden, die sie verstehen können und
in der sie sich verstanden fühlen. Es begleitet sie die
bange Frage, ob die Anderen bereit sind, ihnen menschliches
Asyl und die neue Chance auf Heimat zu ermöglichen.
Der Leib bleibt in all diesen Veränderungen Mittelpunkt
und Gedächtnis unseres „In-der-Welt-Seins“.
Er umfasst das eigene Vermögen, sich in der Welt wahrzunehmen,
zu entfalten und zu behaupten, anzupassen und einzurichten.
„Hier“ ist unser Leben spür- und fühlbar
versammelt und in ihm hat es ein „Zuhause“. Unsere
Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken und unser Gedächtnis
sind einverleibt (embodied). Es scheint, als ob wir aus unserem
Leib nicht vertrieben werden können. Und doch gibt es
Zeiten und Situationen, in denen man sich in seinem Leib nicht
mehr wohl fühlt, sich in ihm nicht mehr „auskennt“
oder sich gar von innerer Heimatlosigkeit bedroht fühlt.
Wie kann mein Leib auch dann noch Schutz bieten, wenn ich
mich als nicht „perfekt“, als verletzlich oder
gar beschädigt erlebe? Wie kann ich trotzdem „bei
mir sein“ oder neues Vertrauen „in mich“
finden? Wann muss ich meine gewohnten Grenzen anerkennen,
wann engen mich diese unnötig ein, wie kann ich diese
hilfreich ausdehnen?
In der Kindheit lernen wir unsere natürlichen Körperöffnungen
für die Aufnahme und Ausscheidung von Nahrung und Verdauung
zu kontrollieren. Unsere Grenzen werden gepflegt, verhüllt
und verkleidet. Auf den Oberflächen unseres Körpers
werden wir von mehr „Fremdkörpern“ und anderen
Organismen besiedelt, als wir selber Körperzellen haben.
Meistens geschieht dieser „Grenzverkehr“ kooperativ
und zu unseren Gunsten.
Die „Grenzen“ unseres Leibes sind nicht identisch
mit denen unseres Körpers. Letztere enden an der Haut
und können vermessen werden. Das Innere unseres Körpers
ist für uns selbst unsichtbar. Durch moderne Diagnosetechniken
überschreitet der „ärztliche Blick“
jedoch diese Grenzen und veröffentlicht das körperliche
Innenleben. Das „Innere“ unseres Leibes bleibt
für Fremde verschlossen. Überanstrengung, Überforderung
oder traumatische Ereignisse können dazu beitragen, dass
unsere Grenzen ignoriert und verletzt werden. Durch Abwehr-
oder Fluchtbewegungen versuchen wir uns zu schützen.
Wir stoßen daher manchmal an „Grenzen“ unseres
Könnens und Wissens, unserer Leistungsfähigkeit,
Erfahrung, Kompetenz oder Zuständigkeit. „Grenzkontrollen“
können daher Ausdruck eines gesunden „Eigensinns“
sein, als einer bewussten Selbstkontrolle. Wo wir als Fremde
betrachtet werden, dort werden unsere „Grenzen“
durch Andere kontrolliert, in „Leibesvisitationen“
oder Bodyscannern. Ethische, moralische und rechtliche Grenzen
erinnern daran, die Grenzen der Anderen zu achten und zu respektieren.
Das Seminar „Leib oder Leben“ will Sie ermutigen,
„am Leitfaden des Leibes“ zu sein, während
Sie mit anderen Menschen zusammen sind. Es öffnet Räume
und Zeiten zur „existentiellen Heimatkunde“. „Wir
sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an
einer Heimat hängen“ (H. Hesse).
Helmut Milz
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